Galakonzert Tritonuns BadenSamstag, 15. 10. 2022, 19.30 Uhr
Congress Center Baden

Joseph Haydn
Die Jahreszeiten

Genia Kühmeier (Sopran)
Rainer Trost (Tenor)
Wolfgang Bankl (Bass)

Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh)
Philharmonisches Orchester Györ
Dirigent: Norbert Pfafflmeyer

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Congress Center Baden; Kaiser Franz Ring 1; 2500 Baden

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Die Jahreszeiten

oder der Triumph Haydns in Wien

Armin Raab

 

„In der Schöpfung reden die Engel und erzählen von Gott, aber in den Jahreszeiten spricht nur der Simon.“ So soll Joseph Haydn zu Kaiser Franz I. bemerkt haben, um die so ganz anders geartete Aura seines letzten Oratoriums neben der Schöpfung zu rechtfertigen.

Die Geschichte von Joseph Haydns beiden späten Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten ist die Geschichte eines gigantischen (und im Grunde bis heute andauernden) Erfolges. Er begann am 29. April 1798: An diesem Tag wurde die Schöpfung im Wiener Stadtpalais des Fürsten Schwar­zenberg unter Haydns Leitung uraufgeführt. Das Interesse war so groß, dass sofort drei weitere Termine angesetzt wurden. Im März 1799 gab es dann wieder drei Aufführungen, darunter erst­mals eine vor großer Öffentlichkeit im Hofburgtheater mit über 400 Musikern. Nachdem Haydn kurz darauf die Partitur des Oratoriums im Selbstverlag veröffentlichte, trat es innerhalb weniger Jahre seinen Zug durch ganz Europa an. An diesen Erfolg sollten – und konnten – die Jahreszeiten unmittelbar anknüpfen. Haydn begann Anfang 1799 mit der Arbeit daran – noch während er die zweite Staffel von Aufführungen des Vorgängerwerkes vorbereitete. Und er tat dies geradewegs unter den Augen der Öffentlichkeit: Die Leipziger Allgemeine Musikalisch Zeitung berichtete im März 1799, Haydn habe den ersten Teil seines neuen Oratoriums, den Frühling, bereits fertigge­stellt. Um diese Zeit scheint es davon eine Art Voraufführung gegeben zu haben, wiederum im Palais Schwarzenberg. Es dauerte aber noch über zwei Jahre, bis zum 24. April 1801, bis am selben  Platz die Uraufführung des gesamten Werks stattfand. Der Andrang war gewaltig, und so erklan­gen die Jahreszeiten in den folgenden Tagen noch zweimal. Am 24. Mai kam es zu einer Privatauf­führung am kaiserlichen Hof, bei der die Kaiserin selbst die Sopranpartie sang. (Haydn attestierte ihr „viel Geschmack und Ausdruck, aber ein schwaches Organ.“) Schon fünf Tage später führte er die Jahreszeiten zum ersten Mal vor großem Publikum im Redoutensaal auf. Wie bei der Schöpfung folgte als Krönung – im Dezember – ein Monumentalkonzert im alten Hofburgtheater. Diesmal ist in den Berichten „nur“ von 200 Mitwirkenden die Rede. Der vor dem Orchester aufgestellte Chor umfasste dabei lediglich 60 Sänger; im Orchester aber waren die Holzbläserpaare und die Trompeten je dreifach, die Hörner vierfach und selbst die Posaunen noch zweifach besetzt. Dies kann man aus dem originalen handschriftlichen Aufführungsmaterial erschließen, das sich glückli­cherweise erhalten hat und heute in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek aufbewahrt wird. Der Selbstverlag der Schöpfung hatte Haydn erhebliche Mühen gekostet. Daher entschloss er sich, das Nachfolgewerk von vornherein in professionelle Obhut zu geben. Schon im Juli 1801 schloss er einen Exklusivvertrag mit dem Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel ab. Darin wurde ihm ein Honorar von 4500 Gulden zugesichert; das war etwa das Vierfache des Jahresgehalts, das er zuletzt vom Fürsten Esterhazy bezogen hatte, und das Zehnfache dessen, was Mozart 15 Jahre zuvor für „Le nozze di Figaro“ erhalten hatte. Anfang 1802 lagen Partitur und Klavierauszug gedruckt vor, und zwar in zwei Ausgaben: eine mit deutschem und französi­schem, eine mit deutschem und englischem Text.

Am Triumph der beiden Oratorien hatte einer ganz wesentlichen Anteil: Gottfried van      Swieten, ein Holländer, der in österreichischen Staatsdiensten stand, zunächst als Diplomat, dann als Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek. Van Swieten war auch Gelegenheitskomponist; größere musikgeschichtliche Bedeutung gewann er aber als Förderer der „alten Musik“, der Werke Bachs und Händels, die nicht zuletzt Haydn, Mozart und Beethoven durch ihn kennenlernten. Van Swieten hatte eine Gruppe begüterter Adliger um sich geschart; für die Konzerte dieser „Gesell­schaft der Associierten“ richtete Mozart schon Ende der 1780er Jahre mehrere Oratorien von Händel ein. Diese Mäzene waren die Auftraggeber der Schöpfung und der Jahreszeiten, mit denen Haydn die Tradition der großen Chorwerke Händels fortsetzen sollte.

Die Libretti beider Oratorien beruhen auf Hauptwerken der englischen Literatur: Die Schöpfung auf dem wichtigsten englischen Versepos des 17. Jahrhunderts, John Miltons „Paradise Lost“, die Jahreszeiten auf dessen Gegenstück aus dem 18. Jahrhundert, „The Seasons“ von James Thomson. Wie groß van Swietens Anteil am Text der Schöpfung ist, muss offenbleiben. Haydn hatte das Libretto von seiner zweiten Englandreise mitgebracht, und van Swieten übersetzte es ins Deut­sche – doch vermutlich griff er dabei durchaus bearbeitend ein. Bei den Jahreszeiten liegt dage­gen die genuine Leistung van Swietens auf der Hand: Allein der Umfang der Vorlage von über 4300 Versen erforderte eine grundlegende Auswahl und Bearbeitung. James Thomson (1700 – 1748), Sohn eines schottischen Geistlichen, schrieb von 1726 bis kurz vor seinem Tod an diesem Hauptwerk und veröffentlichte es mehrmals in neuen, erweiterten Fassungen. Die Mühe war von Erfolg gekrönt: The Seasons wurden Mitte des 18. Jahrhunderts ein europaweiter „Best­seller“; im deutschen Sprachraumwaren sie in gleich mehreren Übersetzungen verbreitet.

Van Swieten greift einzelne Szenen Thomsons auf, wie etwa das Gewitter im Sommer, die Jagd im Herbst, das Umherirren des Wanderers im winterlichen Schneesturm. Nur gelegentlich übernimmt er einzelne Verszeilen wörtlich; dies kann man vor allem an der englischen Fassung des Textes in der Leipziger Originalausgabe sehen, die van Swieten – wie auch die französische – selbst erstellte. Die grundlegenden Tendenzen des Epos von Thomson bleiben erhalten: Nicht um Naturschilderung gehe es, sondern um den Menschen im Verhältnis zu einer Natur, in der überall Gott zum Ausdruck komme. Diesem Thomsonschen Deismus mischt van Swieten noch einiges vom „Zurück zur Natur“ der zweiten Hälfte des18. Jahrhunderts bei und akzentuiert überdies bürgerliche Tugenden wie Fleiß und Moral. Und dies alles verpackt er dramaturgisch geschickt im Wechsel zwischen beschaulichen Genreszenen und großem Pathos – bis hin zu der großen Schlusssteigerung, die das Naturerleben ins Transzendentale überhöht. Mit dieser Steigerung hat van Swieten die entscheidende dramaturgische Schwäche der Schöpfung überwunden, deren ganzer dritter Teil im Lobpreis verharrt.

Ein gutes Libretto zeichnet sich nicht nur durch die gelungene Großform aus: Der Text der Jahreszeiten gibt durch seine detaillierte Bildlichkeit Haydn reichlich Gelegenheiten für jene Tonmalereien, mit denen er schon in der Schöpfung sein Publikum ganz unmittelbar einnehmen konnte. Da springen Lämmer, wimmeln Fische, zucken Blitze, schlagen Glocken, knallen Büchsen, kräht morgens der Hahn und quakt abends ein Frosch (wobei meist die illustrierende Musik der zugehörigen Textstelle voran geht). Nach Haydns Ansicht hatte van Swieten hier schon zu viel des Guten getan, an den Bearbeiter des Klavierauszuges schrieb er nach Leipzig: „Diese ganze Stelle als eine Imitation eines Frosches ist nicht aus meiner Feder geflossen, es wurde mir aufgedrungen, diesen französischen Quark niederzuschreiben.“ Durch eine Indiskretion wurden die Äußerungen veröffentlicht, was zu einer heftigen (allerdings nicht dauerhaften) Verstimmung zwischen Librettist und Komponist führte.

Jeder der vier Teile des Oratoriums wird von einem Instrumentalsatz mit einer programmati­schen Überschrift eröffnet: „Die Einleitung stellt den Übergang vom Winter zum Frühling vor“, „Die Einleitung stellt die Morgendämmerung vor“, „Die Einleitung schildert die Freude des Landmanns über die reiche Ernte“ und schließlich „Die Einleitung male die dicken Nebel, womit der Winter anfängt“. Zusammen mit dem berühmten „Chaos“ zu Beginn der Schöp­fung gehören sie zur interessantesten Instrumentalmusik, die der späte Haydn schrieb. Nach der Uraufführung veränderte Haydn die Instrumentation der Einleitung zum Sommer, in den Instrumentalsätzen zu Beginn der beiden folgenden Jahreszeiten brachte er Kürzungen an. Die Urfassung, lässt sich jedoch aus dem von Haydn selbst benutzten Wiener Aufführungsmaterial rekonstruieren.

Den Solostimmen ordnet das Libretto Namen und Rollenbezeichnungen zu: „Simon, ein Pächter“, „Hanne, seine Tochter“ und „Lukas, ein junger Bauer“. Doch sind sie nicht Handelnde, sondern – wie ihre Zuhörer – Betrachtende. Sie lenken als Kommentatoren den Blick auf die Erscheinungen der Natur: „Seht, wie der strenge Winter flieht“, heißt es im Accompagnato-Rezitativ, das den Frühling eröffnet, „Seht die Lilie, seht die Rose, seht die Blumen all“ dann im ersten Terzett. In Sommer, Herbst und Winter bleibt dieses „Seht!“ ebenso gegenwärtig. Auch den fröhlich hinter dem Pflug einherschreitenden Sämann erlebt man nicht als Sänger – aber man hört ihn immerhin pfeifen, und um dies sinnfällig zu machen, setzt Haydn (zum einzigen Mal in seinem ganzen Schaffen) eine Piccolo-Flöte ein – einer der Instrumentationseffekte, an denen dieses Oratorium so reich ist. Nach van Swietens Vorstellung sollte der Ackersmann eine Melodie aus einem beliebten Singspiel auf den Lippen haben. Doch Haydn wählte ein anderes Zitat: Das Hauptthema aus dem langsamen Satz seiner Sinfonie 94, der damals schon überaus populären „Sinfonie mit dem Paukenschlag“.

Setzte sich Haydn hier selbstbewusst über die Forderung seines Librettisten hinweg, folgte er ihm an anderen Stellen fast sklavisch getreu. Wie jeder Librettist gab van Swieten mit dem Text die Gesamtform des Werkes vor, die Gliederung in Rezitative, Arien und Chöre. Aber er ging noch weiter: In zahlreichen Randglossen in seiner eigenhändigen Niederschrift des Librettos machte er sich Gedanken zur Vertonung. Zur letzten Nummer des Frühlings, überschrieben „Freudenlied mit abwechselndem Chore der Jugend“, notierte er: „Bey dem Ewiger etc. meine ich, dass ein von der Tonart des vorhergehenden Freudenlieds auffallend verschiedener Ton gute Wirkung hervorbringen und das Feierlich-Andächtige des Aufrufs ungemein erheben würde.“ Tatsächlich hat Haydn die deutliche Zäsur beim Eintritt des Textes „Ewiger, mächtiger, gütiger Gott“ mit einer überraschenden Rückung von D-Dur nach B-Dur hervorgehoben. Der Schlusschor zeigt deutlich, wie van Swieten bewusst mit den Jahreszeiten an das vorausgehende Oratorium anknüpft: Der Frühling wird zur Wiederholung der Vorgänge aus der Schöpfung im Kleinen. Am Anfang steht als Schöpfungsakt das Aussäen, am Ende der Lobpreis des Schöpfers, der die Saat gedeihen lässt.

 

Der Sommer besteht aus einer großen Antithese: Erst erlebt man die lebensspendende Natur mit Sonnenaufgang und Preis der Sonne, dann die bedrohliche Natur in einer Gewitterszene, die mit großem Spannungsbogen von den Bedrückungen der Hitze (mit Zuflucht im schattigen Hain) über die furchtsam gespannte Erwartung bis hin zur Rückkehr in die Idylle nach dem Sturm ausgebreitet wird. Beethoven übernahm sieben Jahre später diesen Szenenaufbau für die Pasto­rale, seine Sechste Sinfonie. Im Schlusschor des Sommers gibt Haydn – unmittelbar nach dem Froschquaken – exakt an, zu welcher Stunde die Landbevölkerung ins Bett geht: Acht mal spielen die Hörner denselben Ton, später skandiert der Chor mit wiederum genau acht gleichen Tönen: „Die Abendglocke hat getönt“ und ganz zum Schluss erneut „und ladet uns zur sanften Ruh.“

Der Herbst ist im Zyklus der Jahreszeiten die Ernte, das Schöpfen aus der Natur: Die Jäger ernten in der Fauna, die Winzer in der Flora. Selbst die Liebenden, die in ihrem Duett erstmals nicht als Kommentatoren, sondern als handelnde Personen erscheinen, werden belohnt: Zufriedenheit ist die Ernte ihrer städtischen Moden abgewandten Selbstbescheidung. Voraussetzung allen Gewinns ist der Fleiß, dem im ersten Chorsatz wie einer Gottheit gehuldigt wird – wie zuvor im Frühling dem Schöpfer und im Sommer der Sonne. Wer gearbeitet hat, darf feiern; und so endet die Weinlese mit einem wahren Gelage. Haydn selbst soll den Schlusschor, der schließlich mit Triangel und Tamburin einem fulminanten Abschluss entgegen rast, als „besoffene Fuge“ bezeich­net haben.

Wie im Sommer setzt van Swieten im Winter der Bedrohung durch die Natur die Idylle des ländlichen Lebens entgegen: Der im Schneetreiben verirrte Wanderer findet nicht – wie im Original bei Thomson – den Tod, sondern Zuflucht in der Spinnstube. Und wie im Herbst folgt getaner Arbeit das Vergnügen: Hannes singt ein fröhliches Lied. Dessen Text entnahm der Librettist dem Singspiel „Die Liebe auf dem Lande“, gedichtet von Christian Felix Weiße nach einer französi­schen Vorlage. Dem vorangehenden Arbeitslied, dessen Begleitfigur Franz Schubert später in seinem „Gretchen am Spinnrad“ aufgriff, liegt ebenfalls ein fremder Text zugrunde, ein Gedicht von Gottfried August Bürger. Dramaturgisch gesehen sind diese Einlagen ein auflockerndes Intermezzo vor der ernsten Schlusswendung, inhaltlich korrespondieren beide mit dem Duett der unschuldig Liebenden vom Lande aus dem Herbst. Für den Schluss greift van Swieten zu einer weiteren Textvorlage: Der letzte Chor paraphrasiert den 15. Psalm Davids („Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte? Wer wird bleiben auf deinem heiligen   Berge?“).

WINTER DES LEBENS

Ganz am Ende fällt noch einmal ein finsterer Schatten auf die gleißend hellen Tongemälde dieses Oratoriums. Es ist nicht so sehr der Winter selbst, der den Wanderer auf eisigen Wegen umtreibt und dann doch wieder in die Gemütlichkeit der warmen Spinnstube lenkt. Es ist der moralische Zeigefinger, den Thomson am Ende seines „Lehrgedichts“ hob, um den Jahreszeiten einen allegorischen Sinn zu verleihen. In einer feierlichen Es-Dur-Arie singt Simon die entscheidenden Worte der Mahnung:

„Erblicke hier, betörter Mensch,
erblicke deines Lebens Bild!
Verblühet ist dein kurzer Lenz,
Erschöpfet deines Sommers Kraft.
Schon welkt dein Herbst dem Alter zu,
schon naht der bleiche Winter sich
und zeiget dir das off’‛ne Grab.
Wo sind sie nun, die hoh‛n Entwürfe,
die Hoffnungen von Glück?“

Für beide Autoren des Werkes, Haydn wie van Swieten, hatten diese Verse eine ganz unmittelbare Bedeutung. Und doch hat sie Haydn in die Distanz gerückt. Wichtiger als die Mahnung der Arie war ihm das triumphale Versprechen des Schlusschors: „Dann bricht der große Morgen an.“ Dieses „neue Dasein“ wird nach dem Jüngsten Gericht nicht nur den Frommen und Gottesfürchtigen zuteil. Erlöst werden alle Menschen, die in ihrem Leben einen Tugendkanon erfüllt haben, wie er zugleich der Bergpredigt und den Maximen der Aufklärung entspricht. Noch bis in ihre letzten Verse hinein bleiben die Jahreszeiten ein komponiertes „Lehrgedicht“ im Geiste der europäischen Aufklärung:

 

„Wer darf durch diese Pforten gehen? –
Der Arges mied und Gutes tat.
Wer darf besteigen diesen Berg? –
Von dessen Lippen Wahrheit floß.
Wer darf in diesem Zelte wohnen? –
Der Armen und Bedrängten half.
Wer wird den Frieden dort genießen? –
Der Schutz und Recht der Unschuld gab!“ 

Nun offenbart sich der tiefere Sinn des ganzen Oratoriums: Der Jahreskreis der Natur wird zum Sinnbild des mensch­lichen Lebens.